Das neue Jahr hat gerade begonnen und die Straßen Berlins sind bedauerlicherweise (wenn auch nicht überraschend)übersäht mit Abfall, der von einer ausgelassenen Nacht mit Feuerwerk übrig bleibt - Plastiksplitter, Holzstäbe, feuchte Pappreste und ein seltsamer, roter Nebel hängt in der Stadt. Doch schaut man etwas genauer hin, dann liegen da nicht nur Feuerwerksabfälle, sondern auch ein Paar Jeans, das über ein abgeschlossenes Fahrrad geworfen wurde, ein Haufen Kinderkleidung, der sich unter einen Baum angesammelt hat, oder ein einsamer Schuh auf einem Fenstersims.
Immer häufiger findet man Kleidung und Heimtextilien über die Straßen von Berlin verteilt. Aussortiert und der Witterung ausgesetzt, werden diese Textilien dem Verfall überlassen, obwohl sie weiter einen Wert haben und oft noch getragen werden könnten.
Allein in Berlin werden jährlich 67.000 Tonnen Textilien aussortiert. Davon wird etwa die Hälfte, ca. 33.500 Tonnen, verbrannt. Das heißt, diese Textilien verbrannt werden, bevor sie überhaupt die Chance erhalten, durch die kleineren Schleifen der Circular Economy - Wiederverwendung & Reparatur - zu zirkulieren. Diese Praktiken können den Wert der Textilien größtenteils erhalten und sparen Ressourcen ein, die für die Herstellung neuer Produkte benötigt werden. Nicht zu vergessen ist der soziale Aspekt. Durch den hohen textilen Abfall ist die Versorgung von Bedürftigen in unserer Gesellschaft mit Kleidung und Wärme gefährdet.
So haben wir uns selbst gefragt: Können wir diese Textilien von den Straßen retten, bevor sie als Abfall verbrannt werden? Oder noch einen Schritt weiter – können wir unsere lokale Gemeinschaft weiterbilden und sie dabei unterstützen, diese Textilien davor zu bewahren, aussortiert auf den Straßen zu landen?
Und so waren die Textiles Journeys geboren.
Jede Textile Journey ist interaktiv und gibt einen tiefen Einblick in die entsorgte Kleidung der Berliner:innen. Sie besteht aus 3 Teilen:
1: Straßentour
2: Analyse
3: DIY Workshop
Das Projekt wurde gemeinsam mit unserem Partner STREETWARE Saved Item entwickelt, einer Berliner NGO, die sich seit 2012 für einen nachhaltigeren Umgang mit Textilien engagiert und Aktionen und Events organisiert, wie zum Beispiel die STREET- shopping tour.
Die Textile Journeys fördern nicht nur das Bewusstsein für diese lokalen (und gleichzeitig auch globalen) Probleme, sondern bieten den Berliner:innen auch praktische Lösungen für die Vermeidung von textilem Abfall und sind darüber hinaus eine Plattform für die Tausenden von #textilretter Geschäften und Organisationen, die schon in Berlin existieren – viele davon sind im The A-Gain Guide zu finden.
Am Samstag, den 19.11.2022 haben wir die Textile Journeys zum ersten Mal in Neukölln durchgeführt – einem Stadtteil in Berlin, der oft von weggeworfenen Textilien überschwemmt wird.
Unsere Reise begann an der Hermanstraße, wo die Teilnehmenden von Alice Fassina von STREETWARE Saved Item und Jojo Shone, einem Mitglied des Circular Berlin Textile Teams, begrüßt wurden.
Nach einer kurzen Einführung von Alice stieg die entschlossene Gruppe von 9 Teilnehmenden tief in den ersten Teil unserer Mission ein - die Straßentour. Nach nur 20 Minuten war das „Multifunctional Hybrid Laundro Drive“ aka mobiles Kleider-Pferd, welches STREETWARE Saved Items extra gebaut hatte, voll mit Textilien, die von den Straßen gerettet wurden – obwohl die Gemeinde das Gebiet erst vor wenigen Tagen gereinigt hatte.
Trotz des ungemütlichen Wetters (es war kalt und Schneeschauer kündigten sich an) blieb das Team hoch motiviert. So wurde Kleidung unter Autos gefunden, an Zäunen entlang der Bahnschienen und in Ecken, in welche die Abfallsammler wohl nicht geschaut hatten.
Überrascht von der großen Menge gesammelter Textilien, ging die Gruppe zum Gemeinschaftsraum Kulturlabor Trial & Error. Nach einer Pause zum Aufwärmen mit Tee und Kaffee und einem kurzen Video über die Textilexporte nach Indien, versammelten wir uns um den großen Tisch für den zweiten Teil – der Analyse. Was sind es für nicht gewollte Textilien, die wir gesammelt haben? Und warum landen sie weggeworfen auf den Straßen?
Alle Teilnehmenden erhielten einige Teile, um diese detaillierter zu untersuchen.
Da wir die gerade gesammelte Kleidung noch waschen mussten, haben wir hierfür Textilien von einer vorherigen Straßentour verwendet. Dann haben wir uns angeschaut, wo die Kleidung oder Textilien hergestellt wurden. Zuerst haben wir das „Country of Origin“ (Herkunftsland) ermittelt, danach die Materialien, aus denen das jeweilige Textil hergestellt wurde und schließlich haben wir über mögliche Gründe nachgedacht, warum jemand sich dazu entschieden haben könnte, dieses Kleidungsstück nicht länger haben zu wollen. Einige Ergebnisse entsprachen unseren Erwartungen, aber andere waren sehr überraschend!
Den meisten Textilien fehlte die Information über das Herkunftsland (man ist gesetzlich nicht verpflichtet, diese Info auf das Pflegeetikett zu schreiben) oder sie wurden in China oder Bangladesch produziert. Ein Kleidungsstück war mit „Made for Germany“ ausgezeichnet, im Gegensatz zu „Made in Germany“.
Die Untersuchung war die Mühe schließlich wert, denn mehr als die Hälfte aller 50 Textilien schienen keinerlei „Probleme“ zu haben, wie beispielsweise Flecken, Löcher oder starke Abnutzungen, und könnten noch einmal getragen werden.
Während der Analyse hatten wir lebhafte Diskussionen über die Pflege von Kleidung, den „digital product passport“ (digitaler Produktausweis) und darüber, was „country of origin“ tatsächlich bedeutet. Dabei konnten Gedanken, Wissen und Erfahrungen in der Gruppe ausgetauscht werden.
Nachdem die Analyse abgeschlossen war, konnten wir uns dem DIY Teil widmen, dem dritten Programmpunkt des Tages – einem Upcycling Workshop. Hier haben die großartigen #texttilretter vom A-Gain Guide die Möglichkeit ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zu teilen. Von den gelisteten 481 Änderungsschneidereien, 46 Näh-Cafés, 37 Flohmärkten, 186 Schuhreparatur-Dienstleitungen und 45 Upcyling Angeboten und Workshops, haben wir uns sehr gefreut, Karen Rose begrüßen zu dürfen. Seit 2016 bietet Karen Rose Workshops im Bereich Zero Waste und Upcycling an und sie zeigte uns, wie man ein aussortiertes T-shirt erst in Garn verwandelt und dann zu einem Macramé Schlüsselanhänger.
Während draußen der Schnee leise rieselte, und der Rhythmus von schneidenden Scheren den Raum erfüllte, stellte sich eine meditative Stimmung ein und alle versanken in die Herstellung ihres Schlüsselanhängers.
Es hat uns große Freude bereitet, die erste Textile Journey zu veranstalten und wir bedanken uns bei allen Teilnehmenden, einschließlich unseres Partners STREETWARE Saved Item! Wir können es kaum erwarten, die Veranstaltung in größerem Umfang einzuführen, mehr entsorgte Textilien zu retten und noch mehr Berliner:innen zu befähigen, den Wert ihrer Kleidung zu erkennen und wertzuschätzen. Stay tuned!
The article is prepared by Cherelle Escaffre